Kommissionieren Werkers neue Helfer?

Autor / Redakteur: Benedikt Hofmann / M. A. Benedikt Hofmann

Im Hinblick auf eine mögliche Automatisierung war die Kommissionierung lange eine Art gallisches Dorf, das manchen gar als nicht automatisierbar galt. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Heute ist nicht mehr die einzige Frage, ob es möglich ist, sondern es gilt vielmehr herauszufinden, was für das jeweilige Unternehmen sinnvoll ist. Dabei gibt es unterschiedlichste Konzepte und Technologien, die alle eines gemeinsam haben: Sie sollen für eine reibungslosere und ressourcenschonende Materialversorgung der Fertigung sorgen.

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Ein Ylog-Shuttle übergibt die Ware auf ein freifahrendes Open Shuttle.
Ein Ylog-Shuttle übergibt die Ware auf ein freifahrendes Open Shuttle.
(Bild: Knapp)

Am 24. September 2014 rief der Onlinehändler Amazon die „Amazon Picking Challenge“ aus. Die Teilnehmer des mit 20.000 US-Dollar dotierten Preises sollten Roboter konstruieren, die insgesamt 27 vorbestimmte Gegenstände erkennen, aus unterschiedlichen Regalen entnehmen und in einen Behälter legen mussten. Es ging also um Roboter für die Kommissionierung. Insgesamt nahmen 25 internationale Wissenschaftsteams, darunter das Massachusetts Institute of Technology (MIT), die UC Berkeley und die Georgia Tech, an dem Wettbewerb teil. Das Siegerteam des Robotics and Biology Laboratory (RBO) der Technischen Universität Berlin erreichte insgesamt 148 Punkte. Den zweiten Platz belegte das MIT mit 88 Punkten und der dritte Platz ging an das Team Grizzly der Dataspeed, Inc. mit 35 Punkten. Schon an diesen Abständen zeigt sich die Komplexität des Themas, das hier noch in einem relativ eingeschränkten Umfeld abgebildet wurde.

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Was das für die Kommissionierung von Teilen in der Produktionsversorgung bedeutet, wird deutlich, wenn man die 27 zu greifenden und vorbestimmten Gegenstände des Wettbewerbs mit dem vergleicht, was in einer tatsächlichen Fertigung benötigt wird. Hier fällt, wie Prof. Thorsten Schmidt von der Technischen Universität Dresden (mehr in unserem Interview auf Seite 22) erklärt, besonders die Größe und Komplexität der Teile ins Gewicht. Daher gilt es auch nach Alternativen zu der früher häufig dominierenden Idee von der Vollautomatisierung und dem greifenden, oder wie der Logistiker sagt: pickenden, Roboter zu suchen.

Roman Schnabl, Leiter Produktmanagement beim österreichischen Intralogistikspezialisten Knapp, drückt das so aus: „Wir müssen vom Denken in Nullen und Einsen wegkommen, wie es früher üblich war. Es gibt nicht mehr nur nicht automatisiert oder vollautomatisiert, sondern es gibt auch Zwischenwege, also automatisieren, wo es sinnvoll ist.“

Der Handel als Vorbild

Im Handel hat man das allem Anschein nach verstanden. Ein Beispiel dafür ist das mobile Kommissionierlager, das BLG Logistics in Frankfurt für das Handels­unternehmen Engelbert Strauss betreibt. Die dem Projekt, das im Oktober mit dem Deutschen Logistik-Preis ausgezeichnet wurde, zugrunde liegende Technologie G-Com wurde von dem Automatisierungsexperten Grenzebach produziert. Das Unternehmen sieht klare Gründe, die für eine möglichst weit reichende Automatisierung der Kommissionierung sprechen. Dazu gehört unter anderem, dass so körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten entfallen, indem die Laufwege um bis zu 50 % reduziert werden können. Außerdem kann die häufig gegebene Verschwendung eingedämmt werden, wodurch eine höhere Produktivität erreicht wird.

„Im Fall von G-Com handelt es sich unter anderem um ein modular erweiterbares Konzept, dass mit den Anforderungen wachsen kann,“ führt Harald Bergermann, Sales & Consultant bei Grenzebach, aus. „Die Anwender profitieren außerdem von einer höheren Prozesssicherheit bei vergleichsweise geringen Kosten, einer um 50 % geringeren Fehlerrate und einer besseren Nutzung der vorhandenen Logistikfläche.“

Es handelt sich beim von BLG Logistics umgesetzten System um eine Ware-zur-Person-Kommissionierung, die sich in diesem Bereich nach Meinung vieler Fachleute als am vielversprechendsten herauskristallisiert hat. Hierfür wird ein hochdynamisches, effizientes und flexibles Lagersystem im Hintergrund benötigt, in dem die Ware gelagert und jederzeit in der richtigen Sequenz abrufbar ist. Dazu wird ein wie auch immer geartetes Transportsystem benötigt, das die Teile an den Arbeitsplatz bringt. „Hier wird es eben nicht heißen Roboter oder Mensch, sondern Roboter und Mensch“, stellt Schnabl klar. „Robotik muss genau dort Einzug halten, wo es wichtig ist, den Menschen zu entlasten. Gerade wenn wir aber von höheren Artikelzahlen und sinkenden Losgrößen sprechen, ist und bleibt der Mensch in seiner Flexibilität unschlagbar.“

Das sieht Christoph Meurer, Leiter Simulation und Solutions bei Dematic, ähnlich. Er geht davon aus, dass die Werker innerhalb hochdynamischer Ware-zur-Person-Systeme, in denen alle Nebentätigkeiten automatisiert sind, nur noch die Produkte handhaben werden. Auch er kann sich hierbei vorstellen, dass Roboter in diesem Zusammenhang die Kommissionierung übernehmen.

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Interview
Der große Durchbruch lässt auf sich warten

Herr Prof. Schmidt, lassen Sie uns ganz plakativ einsteigen. Die Kommissionierung zur Produktionsversorgung automatisieren, geht das überhaupt?

Mit Sicherheit, aber da muss ich weiter ausholen. Grundsätzlich ist das ja kein neues Thema. Um das sinnvoll zu beantworten, muss man aber auch einen Blick auf den Handel werfen. Dort hat man über 20 Jahre verschiedene Konzepte angestoßen, die irgendwo einen klassischen Roboter mit Arm vorsahen, der auf irgendetwas zugreift. Der Durchbruch kam hier aber durch die Firma Witron, die erst mal den Spieß umgedreht hat und nicht mehr von oben auf die Ware zugreifen wollte. Das war besonders wichtig, da das Greifen von oben immer problematisch ist. Dieser ganze Problemkreis wurde umgangen, indem nur noch von unten zugegriffen wird.

Wie lässt sich der Fortschritt auf die Produktionsversorgung übertragen?

Hier ist das natürlich viel schwieriger, da die Einheiten in den meisten Fällen kleiner sind. Hier geht es ja nicht darum, die Kiste zu greifen, sondern wie man etwas aus der Kiste herausnehmen kann. Hier tut sich durchaus etwas, gerade weil die Bildverarbeitung immer weiter optimiert wird. Einen großen Durchbruch sehe ich aber noch nicht, das möchte ich auch ganz klar sagen.

Sollte ich mich als produzierendes Unternehmen dann überhaupt mit dem Thema auseinandersetzen?

Wenn Ihre Güter in einem bestimmten Bereich besonders schwer oder besonders schwierig zu handhaben sind, Sie also in Regionen kommen, in denen das normale Kommissionieren von Menschen problematisch ist – oder mit anderen Worten, wenn nicht die Leistung im Vordergrund steht, sondern die Kosten –, dann sollten Sie darüber nachdenken. Das gilt aber nicht erst seit Kurzem. Wenn die zu kommissionierenden Teile zum Beispiel magaziniert sind, gilt das ebenfalls.

Wie wird die Entwicklung also weitergehen?

Ich will es so sagen: Es wird nicht vom Himmel fallen. Es wird also nicht so sein, dass es plötzlich „das“ Gerät gibt, das die beschriebenen Probleme löst. Es wird in immer mehr Einzelfällen möglich sein, die Kommissionierung zu automatisieren, und man muss ein Umfeld schaffen, dass diese Systeme dann gut umgesetzt werden können.

Und am Ende ist es auch eine wirtschaftliche Frage ...

Ganz genau. Hier möchte ich wieder den Blick auf den Handel wenden, wo schon weitgehend automatisierte Systeme im Einsatz sind. Auch hier wären die Systeme nicht so erfolgreich, wie sie es derzeit sind, wenn sie nicht mit dem Versprechen eines Return of Investment von kleiner vier bis fünf Jahre kämen.

Es ist kein Widerspruch, dass die dem Menschen attestierte Flexibilität auch ein Argument für die Automatisierung sein kann. So sollen produzierende Unternehmen durch diese Versorgungssysteme in die Lage versetzt werden, auch Spitzenlasten problemlos abzudecken. „Dabei spielt die Automatisierung der Kommissionierung eine wichtige Rolle“, so Dr. Max Winkler, Vice President Solutions & Technology bei SSI Schäfer. „Eine 100-prozentige Automatisierung ist allerdings auch hierfür in den seltensten Fällen die optimale Lösung. Vielmehr muss bei der Automatisierung eine sinnvolle Integration des Menschen in das System vorgenommen werden.“

Ein wichtiger Vorteil, den das produzierende Gewerbe im Vergleich zum Handel hat und den es ausnutzen muss, ist die Möglichkeit zur weitgehenden Standardisierung der Ladungsträger. Ist dieser Standard dann etabliert, wird es beispielsweise möglich, den Transport weitgehend zu automatisieren. Weitere Erfolg versprechende Ansätze sind Winkler zufolge die automatische Beladung und Entladung von Transporteinheiten sowie das automatisierte Zusammenstellen von sogenannten Kits, zum Beispiel im Bereich der Montage.

So wird es dann auch möglich, diese Bereiche des Materialflusses mit dem Produktionssystem zu vernetzen, wie Meurer zu bedenken gibt. Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Industrie 4.0, der auch an die Bedürfnisse der unterschiedlichen Kunden angepasst umsetzbar wäre.

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Die selbstfahrende Versorgung

Wie eine automatisierte Belieferung der Produktion im bereits angesprochenen Zusammenspiel von Roboter und Mensch aussehen kann, wenn das Kanban-System zum Einsatz kommt, zeigen Trilogiq und Identytec mit ihrem gemeinsamen Projekt „add“ (automated driverless delivery), das in einem Leuchtenwerk der Zumtobel Group zum Einsatz kommt. Hier werden die Kanban-Regale von einem FTS automatisch mit Kleinteilen für die Endmontage beliefert. Bedarfsmeldungen für Kleinteile werden im Kanban-Supermarkt des Lagers auf einem separaten Display inklusive eines Barcodes angezeigt. Der Scan des Barcodes stößt die automatische Auslagerung aus dem Automatiklager an.

Der Logistikmitarbeiter belädt den fahrerlosen Routenzug dann gemäß der vom IT-System am Display und am Fahrzeug mit einer Put-to-Light-visualisierten dynamischen Platzzuweisung. Entlang eines Magnetstreifens fährt das FTS seine Route. Am jeweiligen Regal angekommen, rutschen die einzeln entsperrten Kleinladungsträger vom FTS in die jeweiligen Kanban-Regale an den Montageplätzen. Gleichzeitig werden Leerbehälter vom FTS aufgenommen. 40 bis 60 Lieferungen erfolgen so täglich zu den Arbeitsplätzen in der im Dreischichtbetrieb arbeitenden Montage im Leuchtenwerk Dornbirn.

Ein weiteres Beispiel für selbstfahrende Systeme zur Belieferung von Arbeitsplätzen bietet Magazino. Die Toru genannten Regalroboter zeigen in einem Buchlager bereits, dass Pick-by-Robot möglich ist. Für den Bereich der Produktionsversorgung ist eine modifizierte und vereinfachte Version des jetzigen Prototypen geplant. Statt eines Greifers für die verschiedenen Anwendungen im Fulfillment/Versandbereich soll der mobile Kommissionierroboter dann ein Greifsystem für Kleinteile-(KLT-)Behälter bekommen. Der Roboter wird dann benötigte Teile für die Produktion im KLT-Behälter direkt an die Montageplätze liefern und dort die leeren Behälter wieder einsammeln. Damit könnten nach Meinung des Unternehmens aufwendige, von Menschen gesteuerte Routenzüge ersetzt werden.

Da die Roboter in diesem System mit dem Menschen im selben Raum agieren, wird großes Augenmerk auf der sicheren Zusammenarbeit liegen. Die Roboter müssen in diesem Bereich ein hohes Maß an Selbstständigkeit in der Navigation und lokaler Entscheidungsautonomie mitbringen – insbesondere wenn in der Produktionshalle, gleichzeitig mit den mobilen Robotern, viele Menschen auf denselben Wegen unterwegs sind. Einen ersten Prototypen für diesen Bereich will Magazino im Frühjahr 2016 präsentieren.

Gute Vorzeichen

Zwar gibt es bei der Umsetzung durchaus Unterschiede in der Herangehensweise der verschiedenen an diesem Beitrag beteiligten Unternehmen, doch sind sie sich in einer Sache weitestgehend einig: Die Vorzeichen für eine zumindest teilweise Automatisierung der Kommissionierung in der Industrie sind sehr gut. Dafür spricht nicht nur die Möglichkeit zur Standardisierung der Ladungsträger, sondern beispielsweise auch die häufig bereits vorhandene ausgeprägte Automatisierungskompetenz in den Unternehmen. „Das bedeutet, in verschiedenen Funktionsbereichen des Unternehmens ist die Fachkompetenz bereits gegeben“, so Winkler. „Daher liegt es auch nahe, diese für die Automatisierung der internen Logistik heranzuziehen.“

Im Endeffekt ist die Frage der Automatisierung in der Kommissionierung auch immer eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Über diese entscheiden aber nicht nur die nötigen Investitionen, sondern beispielsweise die bei der konventionellen Kommissionierung auftretenden Fehler. Diese häufen sich aufgrund der sinkenden Losgrößen und steigenden Teilezahlen aber immer mehr, erklärt Schnabl: „Man kann manuelle Lager beispielsweise auch mit einer Einstiegslösung ausstatten, die dabei hilft, diese Fehler zu vermeiden. Auch das ist ein erster Schritt in die Automatisierung, der sich eben genau an den Bedürfnissen des Unternehmens orientiert.“

Und hier kommt er dann wieder zum Tragen, der individuelle Ansatz, den alle Interviewpartner gefordert haben und der sich als Quintessenz dieses Beitrags festhalten lässt. Es entscheidet sich also alles an dem einem Satz, der bei der Frage nach der Sinnhaftigkeit der Automatisierung immer wieder fiel: „Es kommt darauf an.“ MM

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